Die Heilige Nacht

Nacht, Finsternis, Kälte: dies sind eigentlich die Symbole der Gottesferne und der Gottverlassenheit, Symbole, die sich auch in der Kultur unserer Zeit finden, die den Bezug zum wahren Leben, zur wahren Liebe und zum wahren Gott immer mehr zu verlieren droht.
Und doch gibt es im Kirchenjahr auch die Heilige Nacht: Es ist die Nacht, die nicht mehr von der Finsternis beherrscht, sondern vom Licht Gottes erfüllt ist, und so schöner und heller wird als der schönste, klarste Tag! Eine Nacht, in der das Licht Gottes in die Dunkelheit unserer Welt herniedergestiegen ist!
Eine Vorahnung dieser heiligen Nacht durfte schon Abraham erfahren, als ihn Gott „hinaus ins Freie führte und sprach: 'Schau doch auf zum Himmel und zähle die Sterne, wenn du sie zählen kannst!' Und er versicherte ihm: 'So wird deine Nachkommenschaft sein!'“ (Gen. 15,5). In der Stille der Nacht erfährt der Patriarch die Verheißung Gottes.
Die Sterne am nächtlichen Himmel galten seit jeher, auch für manche Philosophen, als eine überwältigende Erfahrung, als ein Zeichen der unermesslichen Größe, aber zugleich auch der unvorstellbaren Liebe und Nähe Gottes! Ihr unscheinbares, zartes und doch so gewaltiges Leuchten offenbart selbst in der tiefsten Nacht noch, dass es mehr gibt als bloß Finsternis und scheinbare Verlassenheit, die den Menschen als endliches Wesen immer bedroht!
Der Blick auf die unscheinbaren Leuchten der Nacht gibt schon eine Vorahnung für die Schönheit des Tages. Und so wird wahr, was schon oft gesagt wurde: Die Mitte der Nacht ist zugleich schon der Anfang des Tages!
Für Abraham war das Leuchten der Sterne noch vor allem eine frohe Botschaft über seine Nachkommenschaft. Doch nicht er konnte diese zum Leuchten bringen, nicht er selbst konnte den Segen hervorbringen, sondern nur der, der zu ihm sprach: „In dir sollen alle Geschlechter der Erde gesegnet sein“ (Gen. 12,3; vgl. Gen. 26,4)!
Dieser Segen Gottes für alle Völker ist erschienen als der wahre Stern, der alle anderen Sternen das Licht gibt, den schon Bileam von ferne geschaut (Num. 24,17) und dem die Weisen aus dem Morgenland mit „überaus großer Freude“ (Mt. 2,10) gefolgt sind, um dem „neugeborenen König der Juden“ (Mt. 2,2) zu huldigen.
Bileam im Alten Testament sieht noch einen Kampf, der den Menschen sogar beim Bemühen um das Gute noch nicht aus der Verstrickung der Sünde erlösen kann. Das Alte Testament schaut die Gnade Gottes von ferne, aber es hat noch nicht Anteil an der vollkommenen Offenbarung Gottes, es kann sich gegen die Macht des Bösen erst recht äußerlich und mit ganz unzureichenden Mitteln zur Wehr setzen, es muss noch die ganze Gewalt der Sünde und des Bösen durchleiden!
Aber gerade deshalb weist das Alte Testament über sich hinaus, gerade dadurch wird seine Vollendung im Kommen des Messias erwartet und ersehnt! (Diese Unvollkommenheit ist auch vielen heute lebenden Juden in der Tiefe ihres Herzens bewusst. Wir würden die Menschen um die wahre und vollkommene Offenbarung Gottes betrügen, wenn wir darüber schweigen würden oder diese Unvollkommenheit, wie es viele „moderne Theologen“ versuchen, einfach überdecken wollten, was keine Liebe, sondern letztlich grausame Kälte gegenüber dem Suchen der Gläubigen Israels bedeutet!).
Das Alte Testament hat zwar schon die Stimme Gottes ursprunghaft vernommen, doch es lebt noch in einer unerlösten Wirklichkeit, in „Finsternis und Todesschatten“, was natürlich erst recht für die heidnischen Völker gilt! Gerade für jenen Teil Israels, der die Heimat Jesu werden sollte und in dem Nazareth und Kapharnaum liegen, verheißt der Prophet Isaias viele Jahrhunderte vor der Geburt Jesu ein „helles Licht“: „Land Zabulon und Land Nephtalim, Landstrich gegen den See hin, jenseits des Jordan, Galiläa der Heiden! Das Volk, das im Finstern sitzt, sieht ein helles Licht; denen, die wohnen im Land des Todesschattens, strahlt ein Licht auf!“ (Mt. 4,15f., vgl. Is. 8,23; 9,1).
In der Heiligen Nacht ist dieses Licht sichtbar unter uns erschienen: „Das wahre Licht, das da erleuchtet jeden Menschen, kam in die Welt!“ (Joh. 1,9). Und es waren Hirten auf dem Feld, die in jener Nacht Wache hielten bei ihrer Herde (vgl. Lk. 2,8), die als erste die „Herrlichkeit des Herrn“ schauen durften, welche sie bei der Engelserscheinung umstrahlte, und denen als erste die Freude dieser Nacht vom Himmel her verkündet wurde: „Fürchtet euch nicht! Denn seht, ich verkünde euch eine große Freude, die allem Volk zuteil werden soll: Heute ist euch in der Stadt Davids der Heiland geboren, der Messias und Herr!“ (Lk. 2,11).
So soll und will Jesus, unser Erlöser und Herr, auch vor uns das Dunkel und den Schrecken der Nacht vertreiben! Auch wir erleben uns bisweilen von Nacht, Finsternis und Kälte unserer Zeit umhüllt. Aber dennoch sollen auch wir wie die Hirten und die Weisen aus dem Morgenland wachen und beten, damit wir das Licht Gottes, das oft gerade in der Dunkelheit zu uns spricht und uns erleuchtet, nicht übersehen und das Wort Gottes, das uns den Erlöser verkündet, nicht überhören!
In großer Stille und in Unscheinbarkeit steigt Gott, der Herr, zu uns hernieder, um uns von der Macht des Bösen zu erlösen! Er braucht nicht das Spektakel, Er ist der Herr, der jedoch in der Niedrigkeit und in der Armut eines kleinen Kindes zu uns kommt, um uns so Seine Nähe und Seine unendliche Liebe zu offenbaren!
Auch heute ist Er Seiner Kirche trotz aller scheinbaren Dunkelheit, welche die Menschen verbreiten, nahe, auch heute wartet Er auf uns, dass auch wir uns aufmachen, der Botschaft der Engel zu folgen, um Jesus nahezusein, vielfach auch in der Armut des Stalles, zugleich aber auch im Reichtum Seiner Herrlichkeit und in Seiner Freude!
Nur wenn wir Jesus in diesem Sinne ehrlich suchen und Ihm ehrlich nachfolgen, erklingt über dem Himmel unseres ganzen irdischen Lebens der frohe Gesang: „Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden den Menschen auf Erden, die guten Willens sind!“ (Mt. 2,14).
Lassen wir uns von diesem Lobpreis anstecken und werden wir selbst für andere zu „Engeln“ der Freude darüber, dass Gott Mensch geworden ist und uns aus der Sünde errettet und uns wieder in das Licht der Liebe Gottes berufen hat!

Thomas Ehrenberger


Zurück Hoch Startseite